Anna-Maria Addicks: In der Tat ist entscheidend, was der Filter in unserem Gehirn als Lärm durchlässt und damit als unangenehm in unser Bewusstsein dringen lässt – und was eben nicht. Lautstärke wird nicht immer als Lärm wahrgenommen, selbst wenn sie über einen gewissen Lautstärkepegel hinausgeht. Zum Beispiel empfindet der Musiker Lautstärke im Rahmen seiner Arbeit sicher weniger oft als Lärm als andere Menschen, die laute Berufe ausüben. Es ist kein Lärm, wenn man im Orchestergraben sitzt und Wagner spielt. Das ist aber ein großes Problem der Musik. Wenn der Schallpegel hoch ist, schädigt er natürlich das Gehör. Musiker sollten genauso einen Gehörschutz tragen wie jeder Straßenarbeiter, der eine Asphaltdecke aufstemmt. Aber Musiker davon zu überzeugen, ist schwierig. Viele haben nicht das Bewusstsein, dass Lärm etwas Schädliches sein kann. Es gibt natürlich viele Musiker, die das verstehen. Es gibt auch große Vorbehalte und Bedenken. Die dämpfende Wirkung von Gehörschutz führt natürlich zu einem veränderten Höreindruck der Musik. Zum Beispiel der einzelnen Stimmen eines Orchesters, die ja möglichst exakt gehört werden sollen, um gut zusammenspielen zu können. Das Gehirn kann sich zwar daran gewöhnen, aber es bleibt die Besonderheit, dass der in der Musik gehörschädliche Schall mit all seinen Feinheiten und Nuancen Inhalt und Zweck der Arbeit und sein Dämpfen mit Sorgen verbunden ist.
Brigitte Schulte-Fortkamp: Das erinnert mich an unsere ersten Untersuchungen in Druckereien zum Maschinenlärm, der Gehörschäden hervorruft. Es gab bei den Druckern seinerzeit großen Widerstand, Gehörschutz zu tragen. Das habe ich damals nicht verstanden. Das Verständnis für die Bedeutung und Wertigkeit des Gehörs musste sich erst schrittweise entwickeln. Genauso wie die Bereitschaft, darüber zu reden. Denn wer spricht schon gern über Schwächen und Einschränkungen?