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Chancen sehen, nicht Defizite

Inklusion am Arbeitsplatz bleibt eine Herausforderung – und eine große Chance. Warum Menschen mit Behinderung trotz Fachkräftemangel oft übersehen werden und wie Unternehmen Barrieren abbauen können, darüber tauschen sich Andrea Kurtenacker vom Institut der deutschen Wirtschaft und Aktivist Dr. Michael Spörke aus. Ein Gespräch über Vorurteile, Potenziale und den Weg zu mehr Offenheit und Vielfalt im Berufsleben.

Das Wichtigste im Überblick

  • Menschen mit Behinderungen sind oft gut qualifiziert, werden aber auf dem Arbeitsmarkt übersehen – meist aus Unkenntnis oder Vorurteilen.
  • Für mehr Barrierefreiheit gibt es Fördermöglichkeiten, beispielsweise für Umbauten und Assistenzlösungen.
  • Unternehmen, die auf Vielfalt setzen, profitieren von neuen Perspektiven und einem besseren Arbeitsklima.
  • Eine inklusive Unternehmenskultur erleichtert nicht nur Menschen mit Behinderungen den Arbeitsalltag, sondern auch älteren oder chronisch kranken Beschäftigten.
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Michael Spörke: Schön, Sie kennenzulernen, Frau Kurtenacker. Ich freue mich sehr, dass wir über Inklusion im Arbeitsmarkt sprechen, weil dieses Thema für behinderte Menschen einfach ein Dauerbrenner ist. Und ich frage mich: Warum kriegen wir die Nuss nicht geknackt? 

Andrea Kurtenacker: Das ist wirklich eine schwierige Frage. Ich denke, es gibt unterschiedliche Aspekte: Viele Arbeitgeber sind nicht ausreichend über das Thema der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen informiert und schauen vielleicht nicht auf die Potenziale der Menschen mit Behinderungen, weil sie bestimmte Vorannahmen haben oder ihnen schlicht Erfahrungen fehlen. Viele Arbeitgeber wissen durchaus, dass die meisten Behinderungen erst im Laufe des Lebens durch Erkrankungen auftreten, also während der aktiven Lebensarbeitszeit. Hier geht es darum, mal zu schauen, welche Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen längst im Unternehmen sind, die es aber nicht offenlegen. Eine positive Unternehmenskultur, die es Arbeitnehmern erlaubt, offen mit Beeinträchtigungen umzugehen, spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch bei der Frage der Rekrutierung steckt viel Potenzial: Inwieweit öffnet sich ein Unternehmen für Menschen mit Behinderungen und wie macht es das öffentlich? Ein weiterer Aspekt ist sicher auch das richtige Matching: Finden Arbeitgeber überhaupt genügend Menschen mit Behinderung, die auf die zu besetzende Stelle passen?

Der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention ist im Prinzip ähnlich: Wir müssen die Umweltfaktoren ändern, nicht die Person.

Andrea KurtenackerProjektleiterin von Rehadat beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Rehadat ist ein unabhängiges Informationsangebot zur beruflichen Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen.

Spörke: Was man aber auf jeden Fall sagen kann: Wenn Unternehmen Menschen mit Behinderung beschäftigen, sind sie zum allergrößten Teil sehr zufrieden. Aber die Hürde bis dahin ist eben schon seit Jahrzehnten hoch. Selbst wenn in der Vergangenheit die Arbeitsmarktlage allgemein gut war, stiegen die Arbeitslosenzahlen bei Menschen mit Behinderung an. Dabei haben diese Arbeitslosen einen sehr hohen Bildungsgrad. Ich habe den Eindruck, dass viele Arbeitgeber meinen, sie hätten die Wahl zwischen der Zahlung der Ausgleichsabgabe und der Beschäftigung eines Menschen mit Schwerbehinderung. Das ist aber nicht so, denn es besteht ab einer bestimmten Betriebsgröße eine gesetzliche Beschäftigungspflicht. Ich meine, es fehlt sehr häufig einfach der Wille oder die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Das müsste sich beim aktuellen Arbeitsmarkt, der immer enger wird, eigentlich drehen. Aber die Arbeitslosenzahlen bei Menschen mit Behinderung steigen weiter.

Kurtenacker: Bei vielen Aspekten bin ich völlig bei Ihnen. Die Beschäftigungspflicht besteht natürlich, und viele Unternehmen beschäftigen ja auch Menschen mit Behinderungen. Laut der Bundesagentur für Arbeit waren 916.846 Pflichtarbeitsplätze im Jahr 2022 mit schwerbehinderten Menschen besetzt. 324.765 Pflichtarbeitsplätze waren dagegen nicht besetzt, denen standen aber nur 163.507 arbeitslose Menschen mit Behinderungen gegenüber. Theoretisch gäbe es also gar nicht genug schwerbehinderte Menschen, um diese Pflichtarbeitsplätze zu besetzen. Wenn Unternehmen nachweislich versuchen Menschen mit Schwerbehinderung oder Gleichstellung zu beschäftigen, aber niemanden finden, müssen wir Lösungen anbieten, denn sonst wird das Nichteinstellen von behinderten Menschen immer negativ konnotiert und die Ausgleichsabgabe als Strafe verstanden. Das wird der ganzen Sache aus meiner Sicht überhaupt nicht gerecht. Zudem ist die Ausgleichabgabe keine “Strafe”, sie fließt in Form unterschiedlicher Unterstützungsinstrumente an die Arbeitgeber zurück. Auf der anderen Seite kann ich es nachvollziehen, wenn sie als solche betrachtet wird, weil sie insbesondere für mittelständische Unternehmen in der jetzigen wirtschaftlichen Situation eine enorme Belastung sein kann. Da gibt es Grenzbereiche, in denen Unternehmen fast eine viermal so hohe Abgabe zahlen müssen als vorher. Wir bekommen das verstärkt mit, weil wir wegen der erhöhten Ausgleichsabgabe aktuell viele Anfragen bekommen. Und diese Unternehmen sind durchaus offen dafür, Menschen mit Behinderungen einzustellen.

Spörke: Dass die Anfragen von Arbeitgebern zur Inklusion zunehmen, ist erst mal eine gute Entwicklung. Aber dieses Interesse muss dann auch auf ein entsprechendes Unterstützungsangebot stoßen. Da haben wir noch einiges an Nachholbedarf, müssen schneller und besser werden. Immer wieder scheitert die Beschäftigung behinderter Menschen aber auch daran, dass Arbeitsstätten nicht barrierefrei sind. Deswegen denken viele Arbeitgeber, sie könnten keine behinderten Menschen einstellen. Oder diese bewerben sich gar nicht erst, wenn sie sich vorher erkundigen, ob der Arbeitsplatz barrierefrei ist. Dabei gibt es für Umbaumaßnahmen natürlich Fördermöglichkeiten und Unterstützung. Arbeitsstätten sollten aber von vornherein barrierefrei gebaut werden. 

Wären die Arbeitsstätten von vornherein barrierefrei, würden auch Ängste und Vorbehalte geringer.

Dr. Michael Spörkeleitet beim Landesverband NRW des Sozialverbands Deutschland die Abteilung Sozialpolitik und Kommunales und engagiert sich als Rollstuhlfahrer seit vielen Jahren bei verschiedenen Verbänden in der Behindertenpolitik.

Kurtenacker: Richtig, das sollte von Anfang an mitgedacht werden – egal, ob im öffentlichen Raum, oder in Unternehmen. Wenn beispielsweise räumliche Barrieren abgebaut werden oder in der Produktion effektive Hilfsmittel installiert werden, kann das auch anderen, beispielsweise älteren Menschen zugutekommen. Nur ein Beispiel: Wir haben hier im Haus Feuerschutztüren, die sehr schwer zu öffnen sind, besonders wenn man nur eine Hand frei hat. Für Rollstuhlfahrende würde man eine automatische Türöffnung installieren, die meist über einen einfachen Schalter funktioniert. Für einen solchen Einbau können Fördergelder beantragt werden. Die meisten Kolleginnen und Kollegen würden ihn auch nutzen, weil es viel leichter wäre. Es ist ein einfaches Beispiel dafür, wie Synergieeffekte entstehen, wenn Barrierefreiheit umgesetzt wird. Im Prinzip ist der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention ähnlich: Wir müssen die Umweltfaktoren ändern, nicht die Person. Aber wenn Menschen mit Behinderungen immer darum bitten müssen, werden sie in eine Rolle gedrängt, die unzulänglich und überholt ist. 

Spörke: Wären die Arbeitsstätten von vornherein barrierefrei, würden auch Ängste und Vorbehalte geringer. Weil es normal wäre, in so einer Umgebung zu arbeiten, wäre es selbstverständlicher, jemanden zu beschäftigen, der oder die entsprechende Bedarfe hat. Wir als Gesellschaft neigen dazu, immer zuerst die Defizite zu sehen und weniger die Chancen. Unternehmen, die anders denken, stellen jedoch fest, dass eine diverse Arbeitnehmerschaft einen großen Mehrwert hat. Denn das verändert viel, vor allem für die Kolleginnen und Kollegen, die vorher keine Berührung hatten mit dem Thema Behinderung. Wir können so viel voneinander lernen. Das führt zum Beispiel dazu, dass Arbeitsprozesse hinterfragt werden, was dann wieder für alle einen Mehrwert hat. Meiner Wahrnehmung nach führt die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu mehr Teambuilding, weil man sich einfach mehr füreinander interessiert. Ich kann nur jeden ermutigen, sich auf diesen Weg zu machen und sich nicht abschrecken zu lassen, wenn es Schwierigkeiten gibt, weil es sich einfach lohnt. Denn die Unternehmen tun nicht nur etwas für die behinderten Menschen, die sie beschäftigen, sondern auch für alle anderen, weil sie bestrebt sind, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die für alle gut ist. Das kommt auch Mitarbeitenden zugute, die im Laufe ihres Arbeitslebens chronisch krank werden oder eine Behinderung bekommen.

Kurtenacker: Ja, das sehe ich auch so. Berührungsängste weichen auf, weil man sich kennt und auch mal fragt: „Sag mal, wie machst du das eigentlich?” Ich möchte noch auf die unsichtbaren Behinderungen eingehen. Ich denke, es ist wichtig darüber zu sprechen und auf mögliche Folgen im Arbeitsprozess aufmerksam zu machen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Reaktionen positiv ausfallen, wenn über eine chronische Erkrankung offen kommuniziert wird. Abweichende Arbeitszeiten, Pausen oder ein längerer Ausfall werden plötzlich nachvollziehbar. Allen wird klar, dass sie nicht fallen gelassen werden, sondern Hilfe bekommen, wenn sie selbst betroffen wären. Und unterm Strich sehen die Kolleginnen und Kollegen, dass Beschäftige mit Behinderungen ihre Arbeit erledigen – und zwar erfolgreich. Ich würde sogar mal unterstellen, obwohl ich dazu keine Zahlen parat habe, dass eine solche Unternehmenskultur zu einer geringeren Fluktuation und einer höheren Motivation im Unternehmen führt. Denn wir alle wissen, dass es auch uns selbst treffen kann.

Spörke: Wenn sich eine Firma aktiv auf den Weg gemacht hat, Menschen mit Einschränkungen zu beschäftigen, dann trauen sich zum Beispiel auch ältere Mitarbeitende ihre Bedürfnisse zu äußern, und man sucht gemeinsam nach Lösungen. Diese Offenheit brauchen wir in einer älter werdenden Gesellschaft und in Zeiten des Fachkräftemangels, weil es den Unternehmen hilft, auf diese Bedürfnisse einzugehen, damit diese Mitarbeitende und ihr Know-how bleiben. Wir können es uns gar nicht leisten, dieses Wissen und diese Fähigkeiten zu verlieren. 

Kurtenacker: Eine offenere Unternehmenskultur zu schaffen, ist sicherlich das eine. Zum anderen müssen wir auch mehr tun, damit Fördermöglichkeiten und Unterstützungsangebote einfacher zu durchschauen und zu bekommen sind. Wir haben eine Fülle an sehr sinnvollen Förderinstrumenten, deren Beantragung leider immer noch sehr aufwendig ist. Für Arbeitgeber ist daher die bundesweite Einführung der Einheitlichen Ansprechstellen (EAA) ein richtiger Weg. In den EAA stehen kompetente Ansprechpartner zur Verfügung. Das Informationssystem Rehadat bietet einen sehr guten Überblick über die Inklusionslandschaft in Deutschland.

Spörke: Wir haben generell beim Thema Inklusion, also der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft, ein Problem in Deutschland. Das gilt auch für die Bereiche Bildung und Wohnen. Daher ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber behinderte Menschen nicht zwingend als mögliche Arbeitnehmer im Blick haben. Denn sie leben in dieser Umgebung, in der Menschen mit Behinderung sehr, sehr oft nicht mitgedacht werden. Wir hängen hierzulande einfach hinterher. Wir leisten uns diese Sondersysteme – Förderschulen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung – weil die allgemeinen Systeme leider noch nicht fit genug sind. Deshalb müssen wir die Regelsysteme inklusiver gestalten, und das fängt schon damit an, dass Kinder mit und ohne Einschränkungen zusammen in den Kindergarten und die Schule gehen, später zusammen ausgebildet werden und gemeinsam arbeiten. Bei uns ist es eben immer noch nicht normal geworden, verschieden zu sein. Um diese Sonderstrukturen aufzubrechen, ist auch die Politik gefragt.

 

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