Kurtenacker: Richtig, das sollte von Anfang an mitgedacht werden – egal, ob im öffentlichen Raum, oder in Unternehmen. Wenn beispielsweise räumliche Barrieren abgebaut werden oder in der Produktion effektive Hilfsmittel installiert werden, kann das auch anderen, beispielsweise älteren Menschen zugutekommen. Nur ein Beispiel: Wir haben hier im Haus Feuerschutztüren, die sehr schwer zu öffnen sind, besonders wenn man nur eine Hand frei hat. Für Rollstuhlfahrende würde man eine automatische Türöffnung installieren, die meist über einen einfachen Schalter funktioniert. Für einen solchen Einbau können Fördergelder beantragt werden. Die meisten Kolleginnen und Kollegen würden ihn auch nutzen, weil es viel leichter wäre. Es ist ein einfaches Beispiel dafür, wie Synergieeffekte entstehen, wenn Barrierefreiheit umgesetzt wird. Im Prinzip ist der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention ähnlich: Wir müssen die Umweltfaktoren ändern, nicht die Person. Aber wenn Menschen mit Behinderungen immer darum bitten müssen, werden sie in eine Rolle gedrängt, die unzulänglich und überholt ist.
Spörke: Wären die Arbeitsstätten von vornherein barrierefrei, würden auch Ängste und Vorbehalte geringer. Weil es normal wäre, in so einer Umgebung zu arbeiten, wäre es selbstverständlicher, jemanden zu beschäftigen, der oder die entsprechende Bedarfe hat. Wir als Gesellschaft neigen dazu, immer zuerst die Defizite zu sehen und weniger die Chancen. Unternehmen, die anders denken, stellen jedoch fest, dass eine diverse Arbeitnehmerschaft einen großen Mehrwert hat. Denn das verändert viel, vor allem für die Kolleginnen und Kollegen, die vorher keine Berührung hatten mit dem Thema Behinderung. Wir können so viel voneinander lernen. Das führt zum Beispiel dazu, dass Arbeitsprozesse hinterfragt werden, was dann wieder für alle einen Mehrwert hat. Meiner Wahrnehmung nach führt die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu mehr Teambuilding, weil man sich einfach mehr füreinander interessiert. Ich kann nur jeden ermutigen, sich auf diesen Weg zu machen und sich nicht abschrecken zu lassen, wenn es Schwierigkeiten gibt, weil es sich einfach lohnt. Denn die Unternehmen tun nicht nur etwas für die behinderten Menschen, die sie beschäftigen, sondern auch für alle anderen, weil sie bestrebt sind, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die für alle gut ist. Das kommt auch Mitarbeitenden zugute, die im Laufe ihres Arbeitslebens chronisch krank werden oder eine Behinderung bekommen.
Kurtenacker: Ja, das sehe ich auch so. Berührungsängste weichen auf, weil man sich kennt und auch mal fragt: „Sag mal, wie machst du das eigentlich?” Ich möchte noch auf die unsichtbaren Behinderungen eingehen. Ich denke, es ist wichtig darüber zu sprechen und auf mögliche Folgen im Arbeitsprozess aufmerksam zu machen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Reaktionen positiv ausfallen, wenn über eine chronische Erkrankung offen kommuniziert wird. Abweichende Arbeitszeiten, Pausen oder ein längerer Ausfall werden plötzlich nachvollziehbar. Allen wird klar, dass sie nicht fallen gelassen werden, sondern Hilfe bekommen, wenn sie selbst betroffen wären. Und unterm Strich sehen die Kolleginnen und Kollegen, dass Beschäftige mit Behinderungen ihre Arbeit erledigen – und zwar erfolgreich. Ich würde sogar mal unterstellen, obwohl ich dazu keine Zahlen parat habe, dass eine solche Unternehmenskultur zu einer geringeren Fluktuation und einer höheren Motivation im Unternehmen führt. Denn wir alle wissen, dass es auch uns selbst treffen kann.
Spörke: Wenn sich eine Firma aktiv auf den Weg gemacht hat, Menschen mit Einschränkungen zu beschäftigen, dann trauen sich zum Beispiel auch ältere Mitarbeitende ihre Bedürfnisse zu äußern, und man sucht gemeinsam nach Lösungen. Diese Offenheit brauchen wir in einer älter werdenden Gesellschaft und in Zeiten des Fachkräftemangels, weil es den Unternehmen hilft, auf diese Bedürfnisse einzugehen, damit diese Mitarbeitende und ihr Know-how bleiben. Wir können es uns gar nicht leisten, dieses Wissen und diese Fähigkeiten zu verlieren.
Kurtenacker: Eine offenere Unternehmenskultur zu schaffen, ist sicherlich das eine. Zum anderen müssen wir auch mehr tun, damit Fördermöglichkeiten und Unterstützungsangebote einfacher zu durchschauen und zu bekommen sind. Wir haben eine Fülle an sehr sinnvollen Förderinstrumenten, deren Beantragung leider immer noch sehr aufwendig ist. Für Arbeitgeber ist daher die bundesweite Einführung der Einheitlichen Ansprechstellen (EAA) ein richtiger Weg. In den EAA stehen kompetente Ansprechpartner zur Verfügung. Das Informationssystem Rehadat bietet einen sehr guten Überblick über die Inklusionslandschaft in Deutschland.
Spörke: Wir haben generell beim Thema Inklusion, also der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft, ein Problem in Deutschland. Das gilt auch für die Bereiche Bildung und Wohnen. Daher ist es kein Wunder, dass Arbeitgeber behinderte Menschen nicht zwingend als mögliche Arbeitnehmer im Blick haben. Denn sie leben in dieser Umgebung, in der Menschen mit Behinderung sehr, sehr oft nicht mitgedacht werden. Wir hängen hierzulande einfach hinterher. Wir leisten uns diese Sondersysteme – Förderschulen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung – weil die allgemeinen Systeme leider noch nicht fit genug sind. Deshalb müssen wir die Regelsysteme inklusiver gestalten, und das fängt schon damit an, dass Kinder mit und ohne Einschränkungen zusammen in den Kindergarten und die Schule gehen, später zusammen ausgebildet werden und gemeinsam arbeiten. Bei uns ist es eben immer noch nicht normal geworden, verschieden zu sein. Um diese Sonderstrukturen aufzubrechen, ist auch die Politik gefragt.